Beschreibung
Das Seminar versteht sich als erster umfassender Versuch, die ursprüngliche Philosophie der Osteopathie anhand von Originalquellen aus der Gründerzeit sowohl gesamthistorisch wie auch transdisziplinär, d.h. aus natur- und geisteswissenschaftlicher Sicht grob zu fassen. Nur auf diesem Weg ist es möglich, die Heilkunst-Form der ursprünglichen Osteopathie so zu fassen, damit ihre Bedeutung im gesamthistorischen Kontext verstanden werden kann. Und es ist erst dieser transdisziplinäre Rückblick, der sehr klar offenlegt, warum sich die Osteopathie fast seit Beginn der Gründung ihrer ersten Osteopathie-Schule in massiven und zunehmenden Identitätsschwierigkeiten befindet.
Während des Seminars werden alle Aspekte stets in ihrem aktuellen Bezug zur modernen therapeutischen Welt vorgestellt und diskutiert, damit die Teilnehmerinnen einen unmittelbaren Nutzen aus dieser Fortbildung ziehen können. Die Teilnehmer*innen sollen danach:
- die Bedeutung kulturhistorischer Zusammenhänge und Entwicklungen für das therapeutische Denken reflektieren können,
- den Unterschied zwischen gesundheits- und krankheitsorientiertem Denken und daraus resultierende Konsequenzen für die Gesundheitssysteme, den Praxisalltag und die therapeutische Rolle verstehen,
- die Möglichkeit bekommen, die ursprüngliche Osteopathie im gesamtmedizinischen Kontext wahrzunehmen,
- erkennen, warum die moderne Osteopathie im Gegensatz zur ursprünglichen Osteopathie momentan keine Identität besitzt,
- ein grundlegendes Wissen über vier wichtige Persönlichkeiten der osteopathischen Gründerzeit erhalten,
- die Philosophie der ursprünglichen Osteopathie im Vergleich zur Philosophie der modernen Osteopathie beurteilen können,
- sich besser bewusst in der medizinischen und der osteopathischen Welt positionieren können,
- verstehen, warum das Philosophieren und damit eigenständige reflektieren und kritische Hinterfragen integraler Bestandteil der Osteopathie ist,
- bewusster und begeisterter ihre osteopathische Arbeit ausüben können.
Tag 1
In einer umfassenden Zeitreise, die uns vom Beginn der kognitiven Revolution bis in die Gründerzeit der Osteopathie führen wird, werden wir sehen, wie aus kulturhistorischen Rahmenbedingungen mit drei große Heilkunst-Formen, die von unterschiedlichen Vorstellungen zu Gesundheit, Krankheit und Ätiologie geprägt sind. Eng verknüpft wird diese Entwicklung immer wieder mit einer Reflexion der Inhalte auf die unmittelbare therapeutische Gegenwart der TeilnehmerInnen. Dabei geht es im Kern um die Bewusstwerdung der Wurzeln des eigenen Denkens und Handelns, der Entstehung eigener therapeutischer Denkmodelle und der auch bis in die Gegenwart noch bestehenden tiefen Prägung selbst noch mittelalterlicher ‚Denkreflexe‘. Damit wird ein spannendes und inspirierendes Hintergrundbild erstellt, das Grundvoraussetzung sein wird, um sich nun ausführlicher der ursprünglichen Philosophie Osteopathie gut gerüstet widmen zu können.
Tag 2
Wir zoomen unsren historisch reflektierten Blick nun auf das kulturhistorische Entstehungsmilieu der ursprünglichen Osteopathie. Hier geht es um die jungen Vereinigten Staaten, das wilde Grenzland, in dem der Entdecker der Osteopathie, der amerikanische Landarzt A.T. Still ‚seine‘ Philosophie der Osteopathie entdeckt gelebt hat und natürlich auch um die Persönlichkeit Stills. Im Zentrum stehen aber seine Texte, die in Auszügen kritisch durchleuchtet werden, um im vor dem Hintergrund des gestrigen Tags Stills Ansatz einer der drei dort erarbeiteten Heilkunst-Formen zuordnen zu können.
Wir werden weiterhin anhand von Originaltexten sehen, wie es vor allem John Martin Littlejohn und Louisa Burns waren, die Stills Philosophie in jene Wissenschaftssprache übertragen haben, die die Osteopathie überhaupt erst wissenschaftlich anschlussfähig gemacht hat. Wir werden aber auch sehen, wie diese Er- und Ausarbeitung der ursprünglichen Philosophie der Osteopathie bereits innerhalb der ersten 20 Jahre nach Eröffnung der ersten Osteopathie Schule durch Priorisierung markt- und berufspolitischen Interessen, aber auch der Unfähigkeit, sich aus alten therapeutischen Rollenmustern zu lösen massiv verzerrt wurde und sich dadurch der Urboden für die bis heute anhaltende und sich stetig weiter verstärkende Identitätszersplitterung der Osteopathie gebildet hat.
Schließlich erfolgt die Darlegung der wohl spannendsten Erweiterung der Osteopathie im 20. Jahrhundert, der kraniosakralen Osteopathie durch W.G. Sutherland. Damit eröffnet er ab Mitte/Ende der 1930er ein Thema, das von jeher von allergrößter Bedeutung für die Heilkunst war, seit der naturwissenschaftlichen Renaissance und ihren Überragenden technischen Erfolgen höchst kritisch betrachtet wird: Transzendenz! Auch hierauf wird anhand von Originaltexten Stills und Sutherlands kritisch eingegangen und gerade an diesem Punkt des Seminars wird die kritische Diskussion nicht selten geradezu ‚knisternd‘
Tag 3
Am dritten Tag erfolgt ein grober Umriss der internationalen Entwicklung der Osteopathie seit ihrer institutionellen Gründung im Jahr 1892. Hier werden jene Momente und Entwicklungen herausgestellt, die noch deutlicher machen sollen, wie sich aus dem schon erwähnten Urboden zunehmend ‚Fehlanpassungen‘ ergeben haben und warum diese Fehlanpassungen nur durch die seriöse und d.h. transdisziplinäre Erarbeitung der ursprünglichen Philosophie der Osteopathie eine weitere Zersplitterung und damit verbundene beliebige Verwendung des Osteopathie-Begriffs verhindert werden kann.
Abschließend werden wir einen umfassenden Rückblick auf unsere gemeinsame Reise durch die Zeit machen, um kritische Fragen ausführlicher zu diskutieren. Fragen zur Osteopathie, zur unmittelbaren therapeutischen Gegenwart an den PatientInnen, zur institutionellen Osteopathie und – ganz im philosophischen Geist der ursprünglichen Osteopathie – weit über den therapeutischen Tellerrand hinaus.